minoisches Kunsthandwerk: Natur und Ornament

minoisches Kunsthandwerk: Natur und Ornament
minoisches Kunsthandwerk: Natur und Ornament
 
Die Herausbildung einer vom Palast geprägten politischen Ordnung, verbunden mit der Entstehung neuer gesellschaftlicher Eliten, führte bald nach 2000 v. Chr. zu einer grundlegenden Wandlung des minoischen Kunsthandwerks. Die führenden Werkstätten, die Keramik, Siegel, Steingefäße und Elfenbeinobjekte produzierten, siedelten sich im Umkreis der großen Paläste wie Knossos, Phaistos und Mallia an, wo ein erhöhter Bedarf an Luxusgütern entstand. Nur hier konnten sich im Zusammenwirken von potenten Abnehmerkreisen und hochspezialisierten Handwerkern neue Formen im Kunsthandwerk entwickeln.
 
In der Vasenmalerei entwickelte sich aus der noch schlichteren, weiß bemalten Keramik des späten 3. Jahrtausends die Kamareskeramik, die nach ihrem ersten Fundort, der Kamareshöhle am Berg Ida, benannt wird. Die Gefäße wurden nun auf einer schnell rotierenden Töpferscheibe gedreht, im Gegensatz zu den vorher üblichen, frei aufgebauten Stücken. Die dunkelgrundige Gefäßoberfläche der Kamaresware überzieht ein Dekor, der in zwei Hauptfarben weiß und orange oder rot angelegt ist. Die Bemalung beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen auf abstrakte Elemente, unter denen Bewegungsmotive wie Spiralen, Schleifen und Wirbelmuster dominieren. Nur selten begegnen Bilder von stark stilisierten Pflanzen, Fischen oder Kraken. Die Kunst der Kamareskeramik bestimmt ein Ornament, das nicht statisch ist, sondern Bewegung veranschaulicht. Es gliedert den Gefäßkörper nicht, sondern umspannt die Oberfläche und vereinheitlicht Ganzheit und Volumen des Gefäßes. Daher treffen wir in der Formensprache des Dekors auf eine Vorliebe für groß angelegte Wirbelmuster, für Spiralrapporte (Spiralnetze, die das Gefäß umgreifen) und Torsion, das heißt ein Dekorationssystem, das spiralig aufsteigend die Mittelachse des Gefäßes umkreist. Hier werden Grundprinzipien minoischen Kunsthandwerks deutlich, die sich ansatzweise bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. erkennen lassen.
 
Die Kamareskeramik, die bis in die Zeit um 1700 v. Chr. überdauert, weist eine reiche Formenvielfalt auf. Bewunderung erregen vor allem die dünnwandigen, auf der Scheibe gedrehten Tassen und Becher, die Eierschalenkeramik. Für Großgefäße zu Vorratszwecken wurden meist kugelige, wenig gegliederte Formen bevorzugt. Häufig haben die Töpfer sich auch bemüht, Formen von Gefäßen aus kostbarerem Material wie Bronze oder Silber nachzuahmen, indem sie etwa Nachahmungen von Nieten auf die Henkel setzten. Da Metallgefäße des 20. bis 18. Jahrhunderts v. Chr. nur in sehr wenigen Exemplaren erhalten sind, bietet die Keramik in diesen Fällen nur ein schwaches Echo des einst vorhandenen Reichtums in den kretischen Palästen.
 
Stärker naturalistische Tendenzen bildeten sich zunächst nur in der Reliefkeramik heraus, die in spezialisierten Werkstätten in Mallia und Knossos produziert wurde. Plastische Muscheln (zum Teil Abdrücke echter Muscheln), mit Matrizen (Negativform) aufgebrachte Darstellungen von Katzen, Vögeln, Spinnen und ähnlichen Tieren verraten ein erwachendes Interesse an der Natur.
 
In der Vasenmalerei wurde das 17. Jahrhundert, das zugleich den Beginn der neuen Paläste Kretas nach der Katastrophe um 1700 v. Chr. bezeichnet, zur kritischen Umbruchphase. Naturmotive wie Palmen, Lilien und Gräser traten neben die alten abstrakten Dekorationselemente, die allerdings nie verschwanden, sondern weiter tradiert wurden. Der Malstil wandelte sich: Die Farbwerte von Gefäßgrund zu Dekor wurden ausgetauscht. An die Stelle der Weißmalerei auf dunklem Grund trat nun dunkle Firnisbemalung auf heller Tonfläche. In der Übergangsphase vom 17. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts v. Chr. entstanden gelegentlich Vasen, bei denen beide Techniken miteinander kombiniert sind.
 
Zur Blütezeit minoischer Vasenmalerei wurde die 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts v. Chr. Die Palastwerkstätten bestimmten weiterhin die Entwicklung, vor allem in Knossos und in Kato Zakros, aber auch in anderen ostkretischen Zentren. Die Welt des Meeres beherrschte nun die Dekore der feinsten und in ihrer Komposition aufwendigsten Tongefäße: Tintenfische, Seesterne, Kraken, Korallen und Wasserpflanzen prägen den Meeresstil. Neben der Welt des Meeres stand die Pflanzenwelt. Palmmotive oder fein gezeichnete Netze von Gräsern können die Gefäßoberfläche in ähnlicher Weise vereinheitlichen, wie dies die Meeresmotive taten.
 
Daneben entwickelte sich noch im Laufe des frühen 15. Jahrhunderts v. Chr. eine stärker abstrahierende Gattung der Vasenmalerei, die für die Entwicklung der Folgezeit wegweisend wird und durch kurvolineare Motive bestimmt ist, wie Laufspiralen, Arkadenmuster, Bänder von tropfenartig stilisierten Blättern. Diese Elemente sind Bestandteil eines aus schmalen Streifen aufgebauten Dekorationssystems, das nun die Gefäßoberfläche stärker gliedert und die funktionalen Elemente des Gefäßes wie Rand, Henkelzone, Körper und Fuß stärker gegeneinander akzentuiert. Hier bahnte sich ein neues Stilempfinden an.
 
Auch in der Kunst der Siegelherstellung, dem wichtigsten Zweig minoischer Kleinkunst neben der Vasenmalerei, kam es in der Zeit nach 2000 v. Chr. zu einer technischen Neuerung: Die Einführung eines schnell rotierenden Bohrers, mit dessen Hilfe nun harte Gesteinsarten wie Bergkristall, Amethyst, Chalzedon, Achat und ähnliche bearbeitet werden können, führte zu einem qualitativen Aufschwung. Flache, runde linsenförmige Siegel (Lentoide), Stempel mit Griffen, die eine bessere Handhabung ermöglichten, und mehrseitige Prismen wurden bevorzugt. Ornamentformen, die zum Teil linear angelegt sind wie Schraffuren, Kreuzmuster oder Dreiecke, die zum Teil aber auch deutlich dem Dekor der Kamareskeramik entsprechen wie etwa C- und S-Spiralen, Schleifen und Schlingenmuster, überwiegen. Typisch ist eine Kompositionsweise, die vom Zentrum der Siegelfläche ausgeht und die Motive um die Mitte kreisend anlegt, wie dies etwa an Spiral-, Drei- und Vierpässen und Wirbelmustern deutlich wird. Formensprache und Bewegungscharakter entsprechen durchaus den Tendenzen der gleichzeitigen Vasenmalerei.
 
In der Siegelherstellung finden wir den Kunstzweig, in dem schon früh mit figürlichen Motiven wie Menschen- und Tierdarstellungen experimentiert wurde. Die Darstellungsweise unterliegt dabei vielfach der Prägung durch ornamentale Grundstrukturen. Dies wird deutlich an Tierkörpern, die in durchaus unorganischer Weise zu S-Mustern verdreht wurden, ebenso an Kompositionen, an denen Gruppen von Tieren um das Siegel stehen. Der Höhepunkt der Siegelschneidekunst wurde zwischen 1700 und 1400 v. Chr. erreicht. Eine stärker organische, am Naturvorbild orientierte Durchformung charakterisiert den Stil der neuen Palastzeit, wobei allerdings auch dieser »Naturalismus« wiederum dekorative Grundzüge zeigt.
 
Zum reichen Spektrum des minoischen Kunsthandwerkes im 2. Jahrtausend v. Chr. gehört auch die Goldschmiedekunst. Minoische Goldschmiede hatten schon früh komplizierte Verzierungstechniken wie Filigran und Granulation aus dem Nahen Osten übernommen. Den hohen Stand dieses Kunstzweiges schon im 18. Jahrhundert v. Chr. veranschaulicht besonders schön ein Schmuckstück aus Mallia. Ein Paar gegeneinander gruppierte Bienen oder Wespen sind wie in einer Momentaufnahme, im Flug aufeinander eingefangen.
 
Im Osten hatten minoische Handwerker auch die Kunst der Fayencebearbeitung kennen gelernt. Fayence diente als Material zur Herstellung von Schmuckstücken, von Gefäßen, aber auch von Reliefs und Statuetten. Den qualitativen Höhepunkt dieses Kunstzweiges veranschaulichen Reliefs aus dem Heiligtum des Palastes von Knossos.
 
Die Kunst der Steingefäßherstellung finden wir von der frühminoischen Zeit, wo sie eine erste Blüte erlebte, über die ältere bis hin zur jüngeren Palastzeit. Minoische Palastwerkstätten schufen im 16. und 15. Jahrhundert reliefgeschmückte Gefäße aus Steatit (Speckstein), einem leicht zu bearbeitenden, weichen Material. Eine der schönsten dieser Schöpfungen ist die Schnittervase von Hagia Triada, die einen Festzug zur Feier der Olivenernte schildert: Landarbeiter mit gabelartigen Geräten zum Herabschlagen der Oliven marschieren hier in dichter Folge hintereinander. Ein Musikant mit einem Sistrum, einem Klapperinstrument, und Sänger begleiten den Zug, der durch auf- und absteigende Bewegungsmotive zu einer Einheit zusammengefasst wird.
 
Steatitgefäße dieser Art waren in kretischen Palästen und Städten weit verbreitet. Ihre reiche Bilderwelt zeigt unter anderem Sportszenen wie etwa Boxkämpfe sowie kultisches Stierspringen und Heiligtümer in einer Felslandschaft. Wenigstens ein Teil der Steatitgefäße wurde, wie gelegentliche Spuren zeigen, mit Blattgold überzogen, um sie im Aussehen den ungleich wertvolleren Gefäßen aus Gold anzugleichen. Die Relieftechnik der Steingefäße entspricht der Technik getriebener Metallgefäße.
 
Prof. Dr. Hartmut Matthäus
 
 
Demargne, Pierre: Die Geburt der griechischen Kunst. Die Kunst im ägäischen Raum von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Anfang des 6.vorchristlichen Jahrhunderts. München 1965.
 Matz, Friedrich: Kreta und frühes Griechenland. Prolegomena zur griechischen Kunstgeschichte. Neuausgabe Baden-Baden31979.
 Snyder, Geerto A.S.: Minoische und mykenische Kunst. Aussage und Deutung. München u.a. 1980.

Universal-Lexikon. 2012.

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